Der große

Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht

in Deutschland 2020 / 2021


Vorwort Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht in Deutschland
Dr. Marc Serafin

Eltern sein und bleiben!

 

Von Marc Serafin

 

Zu einer der folgenschwersten Auswirkungen elterlicher Trennungen zählt das Verhalten von Kindern, die im Kontext elterlicher Trennungen scheinbar aus sich selbst heraus den Kontakt zu einem ihrer beiden Eltern ablehnen, obwohl kein ersichtlicher Grund dafür erkennbar ist. Die Rede ist von Kindern, die mit dem nun abgelehnten Elternteil zuvor selbstverständlich zusammengelebt, emotionale Nähe und familiäre Verbundenheit empfunden haben. Ein Verhalten, das außerhalb des Kontextes von elterlichen Trennungen nicht bekannt ist. Keine amtliche Statistik oder wissenschaftliche Erhebung weist in der Bundesrepublik Deutschland bisher die Anzahl der Fälle von Eltern-Kind-Entfremdung im Zusammenhang elterlicher Trennungen aus. Gleichwohl sind sie unter den Verwandten und Freunden von Trennungseltern sowie bei Familienberatungsstellen, Jugendämtern und Familiengerichten aus eigener Fallerfahrung wohlbekannt. Es ist ein großes Verdienst der Initiatoren der Befragung für den „Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht in Deutschland 2021“ sowie aller Mitwirkenden daran, das vorliegende umfangreiche Feldmaterial zusammengetragen zu haben!

 

Methodisch anzumerken ist, dass der durchgeführten Befragung kein repräsentatives Sample zugrunde liegt. Die dargestellten Ergebnisse basieren auf den Rückmeldungen einer Teilauswahl von Trennungseltern und Großeltern, bei denen die elterliche Trennung zu Ausgrenzung aus der familiären Verbindung und zu einem Beziehungsverlust zu ihren Kindern und Enkelkindern geführt hat und die in diesem Zusammenhang in Kontakt mit der Jugendhilfe und den Familiengerichten gestanden haben oder noch stehen. Die Grundgesamtheit aller Trennungseltern mit Kontakt zur Jugendhilfe und deren komplettes Erfahrungsspektrum ist damit nicht abgebildet. Wir wissen aus dieser Erhebung deshalb nicht, wie groß der Anteil derjenigen Fallverläufe ist, bei denen die professionelle Intervention durch die Institutionen der Jugendhilfe und des Familienrechts als hilfreich empfunden wurde und welche Formen der Beratung und Intervention sich für die Verhinderung von Eltern-Kind-Entfremdung als erfolgreich zeigen. Gerade Letzteres wäre für eine vorwärtsweisende Analyse und Praxisentwicklung von größter Bedeutung. Leider fehlen darüber bisher evaluierende wissenschaftliche Studien.

 

Dennoch, auch wenn aus der vorliegenden Übersicht ein vollständiges Bild über die Gesamtheit der Erfahrungen heutiger Trennungsfamilien mit der Jugendhilfe und der Familienrechtspraxis nicht ableitbar ist, wird aus dem gesammelten Material doch deutlich, dass eine relevante Gruppe der Trennungseltern und Großeltern, die Beratung und Hilfe bei den Institutionen der Jugendhilfe und bei den Familiengerichten suchen, tiefe defizitäre Erfahrungen mit der Jugendhilfe- und Familienrechtspraxis schildert. Dabei kann das Ausmaß der berichteten Leiderfahrung und Hilflosigkeit der von Ausgrenzung betroffenen Eltern kaum eine LeserIn unbeeindruckt lassen. Der Fachdiskurs der Jugendhilfe, der Sozialen Arbeit, des Familienrechts und der Familienpolitik würde es sich zu einfach machen, das hier zusammengetragene Material als nicht wissenschaftlich genug beiseitezulegen und zu ignorieren.

Was sind die Hauptkritikpunkte, die von den betroffenen Eltern am Handeln der professionellen Institutionen genannt werden? Als Hauptkritikpunkte werden fehlendes Wissen bei den involvierten Fachleuten über das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung, fehlende Handlungskonzepte und falsche oder mangelhafte Intervention genannt (Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht in Deutschland, 2021).

 

Über das Vorhandensein des Phänomens und dessen Einordnung als eine Störung der familiären Beziehungen kann auf dem Stand des heutigen Fachwissens über Belastungen im Zusammenhang elterlicher Trennungen kein Zweifel bestehen. Unterschiede bestehen in der Analyse und Bewertung des Phänomens und in den Schlussfolgerungen für dessen Prävention und Behandlung.

 

Zur Genese kindlicher Kontaktablehnung

 

Die hier nachfolgend skizzierten Ausführungen folgen einer systemischen Perspektive auf die Entstehung kindlicher Kontaktablehnung im Kontext elterlicher Trennungen. Kinder und Jugendliche, die ohne erkennbaren Grund den Kontakt und die Fortführung ihrer vertrauten Verbindung zu einem ihrer beiden Eltern radikal verneinen, zeigen ein Verhalten, dass in Familien mit Eltern in bestehender Partnerschaftsbeziehung (ob zusammenlebend oder nicht) sowie in Trennungsfamilien, bei denen sich die Eltern bindungsfürsorglich1 verhalten, nicht vorkommt (Temizyürek, 2014). Diese Beobachtung allein verweist bereits darauf, dass ein enger Zusammenhang zwischen der kindlichen Kontaktablehnung und dem interaktiven Beziehungsverhalten der Familienmitglieder innerhalb der Trennungsfamilie besteht.

 

Als zentrale Strukturmerkmale lassen sich dabei ausmachen:

  • die intensive Einbeziehung des Kindes in elterliche Partnerschaftskonflikte verbunden mit Partnerabwertung zwischen den Eltern, einseitig oder beiderseits.
  • eine in der Regel asymmetrische Betreuungsaufteilung mit der Folge des Wegfalls selbstverständlicher Alltagsroutinen des Kindes mit dem anderen der beiden Eltern.
  • mangelndes bindungsfürsorgliches Elternverhalten

Alle drei Merkmale enthalten ein Bündel von Unteraspekten, die passive wie aktive bindungsunterlaufende Verhaltensweisen des überwiegend betreuenden oder beider Eltern beinhalten können sowie auch Kränkungserfahrungen des Kindes durch Verhaltensanteile des abgelehnten Elternteils (Behrend, 2009), (Alberstötter, 2013) (Boch-Galhau, 2018).

 

Kinder und Jugendliche erfahren in einem solchen familiären Kontext ein hohes Maß an Stress und geraten in einen stark belastenden Loyalitätskonflikt zwischen ihren Eltern. Institutionelle Befragungen, die Kindern und Jugendlichen zusätzlich aufbürden, sich durch Bekundung ihres Willens zwischen ihren Eltern zu positionieren, verschärfen diesen Druck auf die Kinder noch. (Behrend, 2013)

 

Kindliche Kontaktablehnung lässt sich auf diesem Hintergrund als Versuch des Kindes verstehen, sich einer hochbelastenden und für es selbst nicht auflösbaren Lage zu entziehen – um den Preis der Verneinung der Hälfte seiner familiären Herkunft und damit auch eines Teils seiner selbst, sowie um den Preis des Verlustes einer seiner beiden wichtigsten Bindungspersonen. 

1 Zur Unterscheidung von bindungsfürsorglichem, bindungstolerantem und bindungsblockierendem Verhalten vergl. Temizyürek, Kemal; Das Konzept der Bindungsfürsorge, 2014)

 

Kinder und Jugendliche, die ohne erkennbaren Grund den Kontakt und die Fortführung ihrer Beziehung zu einem ihrer beiden Eltern radikal verneinen, zeigen ein Verhalten, dass nach Maßgabe der Bindungstheorie eigentlich gar nicht vorkommen dürfte. Kinder sind über lange Zeit ohne für sie sorgende Erwachsene nicht überlebensfähig und stabilisieren schon ab dem Säuglingsalter durch ihr eigenes aktives Bindungsverhalten eine möglichst feste Bindung zu den sie umgebenden und sie versorgenden erwachsenen Bezugspersonen selbstständig mit (Bowlby, 2018 (1988)), (Grossmann & Grossmann, 2014). Gerade die Jugendhilfe weiß nur zu gut, wie fest Kinder selbst bei grobem elterlichen Erziehungsverhalten an der gewachsenen emotionalen Bindung zu ihren Eltern festhalten. Wenn Sie sich von einem der beiden vertrauten Eltern nach Eintritt einer elterlichen Trennung plötzlich abwenden, tun sie dies nicht in unbeschwerter und freier Entscheidung. Die einseitige Zuordnung zu einem ihrer beiden Eltern und der Versuch, den anderen Elternteil gleichsam aus ihrem Leben zu streichen, ist ihr Versuch sich von dem familiären Loyalitätsdruck zu befreien, der auf ihnen lastet und den sie nicht tragen können.

 

Kindliche Kontaktablehnung im Zusammenhang elterlicher Trennungen lässt sich insofern als eine Störung innerhalb des bestehenden familiären Beziehungssystems der Trennungsfamilie beschreiben (Jopt, 2002). Beiden Eltern kommt in dieser Situation die elterliche Sorge-Verantwortung zu, diese Störung durch Veränderung ihres Verhaltens abzubauen. Dabei benötigen betroffene Eltern Unterstützung; die Kinder und Jugendlichen Entlastung und neutralen Schutzraum.

 

Die elterliche Verantwortung

 

Handlungsmöglichkeiten von Ausgrenzung betroffener Eltern

 

Erfahrungen aus der Praxis der Jugendhilfe zeigen häufig, dass ausgegrenzte und dem Anschein nach vom Kind abgelehnte Eltern sehr stark verunsichert sind, wie sie sich verhalten sollen. Dabei zeigen sich recht deutlich zwei wiederkehrende Verhaltensvarianten. Bei der einen Variante meinen die betroffenen Eltern, es sei das Beste sich dem (vermeintlichen) Wunsch des Kindes zu fügen, da man es zu einem nichtgewollten Kontakt und gegen den Widerstand des hauptbetreuenden Elternteils nicht drängen könne. Diese Eltern ziehen sich aus ihrer elterlichen Rolle und dem familiären Kontakt zurück und überlassen das familiäre Feld dann meist dem anderen Elternteil. Bei der anderen Verhaltensvariante wenden sich die Eltern an das Gericht oder das Jugendamt in der Hoffnung, mit deren Hilfe zu ihrem “Recht” zu kommen. An die behördlichen Institutionen und deren Fachkräfte wird dabei die Erwartung gerichtet, dass – salopp gesprochen - endlich einmal jemand dem anderen Elternteil „richtig die Meinung sagt“ und dafür sorgt, dass der Kontakt zum Kind wieder hergestellt wird. Beide Verhaltensweisen führen in der Regel nicht zum Erfolg und münden oft in tiefe Enttäuschung und Verbitterung.

 

Der Grund liegt darin, dass sowohl passiver Rückzug, in Verbindung mit bloßem Abwarten, als auch das Delegieren von Kommunikation und Handeln auf externe Instanzen die innerfamiliäre Beziehungsstörung und deren Auswirkung auf das kindliche Empfinden nicht auflösen (Watzlawick & et al., 2011 (1969), S. 65 ff.).

 

Welche alternativen Handlungsmöglichkeiten gibt es?

 

Es geht darum eine familiäre Konstellation, ein Beziehungsgefüge zu verändern, von dem man selbst ein Teil ist. Das erfordert Fertigkeiten zu entwickeln, durch die man in die Lage versetzt wird, durch Änderung des eigenen Verhaltens Veränderungen zu induzieren und herbeizuführen, anstatt vom anderen zu fordern, er/sie solle diese Arbeit machen. Dies ist alles andere als eine leichte Übung. Aber es ist möglich, diese Fertigkeiten zu erlernen und darüber die familiäre Situation positiv in Bewegung zu bringen.

 

Es geht in der Entfremdungssituation darum, weiterhin aktiv Vater und Mutter zu bleiben und nicht das Feld zu räumen oder in bloßem Anklagen zu verharren. Es geht darum trotz Entfernung zum Kind in geeigneter Weise Kontakt zum Kind zu suchen und zu pflegen (auch wenn keine Unterstützung und/oder Abwehr des früheren Lebenspartners dazu erfolgt), mit den Möglichkeiten, die dennoch aus der Distanz zur Verfügung stehen. Durch freundliche, unaufdringliche Anteilnahme per Brief, Päckchen, mail etc. an wichtigen Ereignissen des Kindes (Zeugnis, Geburtstage, Weihnachten, Ferienbeginn etc.); durch eigenständige Teilnahme an schulischen Ereignissen (Elternabend, Elternsprechstunde, Schulfeste etc.), durch Briefe/Postkarten/Mail mit kindgerechten Mitteilungen aus dem eigenen Leben. Es geht darum zu zeigen, als Mutter oder Vater da zu sein und sich aus der Entfernung mit um das Kind zu kümmern. Die Kinder werden das bemerken, auch wenn sie es zunächst nicht zeigen.

 

Diese Kommunikation ist nicht einfach und muss sensibel erfolgen. Sie braucht Empathie und Übung. Es ist schwer, in einer angespannten familiären Situation, abgetrennt vom eigenen Kind und konfrontiert mit ablehnendem Verhalten, sich immer gut und richtig zu verhalten. Deshalb ist es sinnvoll und nützlich, sich dafür Hilfe und Unterstützung durch psychologisches Coaching zu suchen, in dessen Rahmen man das eigene Verhalten besprechen kann; dies auch im Hinblick auf die Kommunikation und Interaktion mit dem früheren Lebenspartner, den beiderseitigen Großeltern, den Fachkräften in der Kita und der Schule bis hin zu involvierten Fachkräften der Jugendhilfe oder des Gerichts. Familienberatungsstellen, freie Therapeuten, Mediatoren und auch Selbsthilfegruppen bieten solches Coaching an (Reiners & Schmelter, Gerrit, 2019). Die Fachpersonen sollten dabei natürlich mit dem Phänomen Eltern-Kind-Entfremdung und Kontaktablehnung fachlich vertraut sein.

 

Einholung professioneller Unterstützung

 

Ein zentraler Faktor zur Veränderung der bestehenden Familiendynamik ist die Mitwirkungsbereitschaft beider Eltern. Auch hier gilt: zunächst eigene aktive Ansprache zum Aufsuchen einer professionellen Familienberatung. Kommt es trotz Bemühung nicht zu einer Zustimmung zu gemeinsamer Beratung, dann braucht es an dieser Stelle professionelle Unterstützung. Hier kann es Sinn machen, noch vor dem Jugendamt, einen Mediator einzuschalten, oder eine Familienberatungsstelle, die mit dem Vorschlag, eine gemeinsame Beratung aufzusuchen, an den früheren Lebenspartner herantritt. Gelingt hierüber kein Fortschritt, wird an dieser Stelle Hilfe durch das Jugendamt benötigt.

 

Eine Familiensituation mit Anzeichen von Eltern-Kind-Entfremdung ist als eine familiäre Beziehungsstörung mit deutlichen belastenden Auswirkungen auf das Wohlbefinden aller Familienmitglieder (den Kindern, den Eltern, sowie den Großeltern), verbunden mit belastenden und benachteiligenden Sozialisations-Bedingungen für die involvierten Kinder zu bewerten. Gleichzeitig werden gültige Rechte der Eltern, der Kinder sowie der Großeltern auf familiären Kontakt und eine förderliche Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehungen verletzt.

 

Beide Aspekte sind ein hinreichender Grund, um professionelles, familienunterstützendes Handeln durch die Jugendhilfe (Familienberatungsstellen und Jugendamt SGB VIII §§ 1, 17,18, 27, 28) sowie durch das Familienrechtssystem (Mediation, Familiengericht BGB §§ 1626, 1627, 1687, 1684, 1685) auszulösen. Dadurch ist eine klare gesetzliche Grundlage gegeben, auf der Beratung und Hilfe durch das Jugendamt eingefordert werden kann. Und natürlich hat das Jugendamt Handlungsmöglichkeiten, um allen beteiligten Familienmitgliedern sowohl Unterstützung anzubieten als auch Lösungsanstrengungen abzuverlangen.

 

Die institutionelle Verantwortung

 

Handlungsmöglichkeiten von Familienberatung, Jugendamt und Familiengericht

 

Jugendämter, Familienberatungsstellen und Familiengerichte stehen vor der Aufgabe beim Auftreten kindlicher Kontaktablehnung in richtiger Weise zu intervenieren. Dabei hat sich bloßes Abwarten in der Hoffnung die unterbrochene Kind-Eltern-Beziehung werde durch ein „zur Ruhe kommen lassen“ des Kindes, bis dieses von selbst wieder Kontakt aufnehmen möchte, sich gleichsam von allein wieder herstellen, als nicht wirksam erwiesen. In der Praxis sind so gut wie keine erfolgreichen Beispiele dafür bekannt. Schon Gardner hatte das in einer Analyse gerichtsanhängiger Fälle empirisch feststellen können (Gardner, 2002 (2010), S. 88). Kinder sind, auf sich selbst gestellt, völlig überfordert damit, sich aus einem familiären Spannungsfeld, welches ihnen den unbehinderten Kontakt zu beiden Eltern verwehrt, eigenständig befreien zu können (Behrend, 2019).

 

Die Familientherapeutin Wera Fischer formuliert es so: „Sozialarbeiter, die mit dem Phänomen (kindlicher Kontaktablehnung) nicht vertraut sind, laufen Gefahr, sich als Sprachrohr des Kindes zu verstehen. Sie verbünden sich mit dem Kind und versuchen, seinen Aussagen Gewicht zu verschaffen. Sie machen sich nicht klar, dass die Fähigkeit des Kindes eingeschränkt sein kann, selbst darüber zu bestimmen, was gut für es ist. (…) Was Kinder in solchen Situationen brauchen ist Hilfe, ihre eigenen Gefühle wieder wahrzunehmen, sich selbst wieder vertrauen zu können. Es nutzt den Kindern nichts, sich an ihrem geäußerten Willen zu orientieren. Deshalb dürfen Entscheidungen nicht auf den Willensbekundungen des Kindes aufgebaut werden. Stattdessen muss sich der Sozialarbeiter an den objektiven Interessen des Kindes orientieren: beide Eltern lieben zu dürfen und von beiden Eltern geliebt zu werden (Fischer, 1998, S. 11).“

 

Wirksame Intervention

 

Aus der Kenntnis der Genese kindlicher Kontaktablehnung lassen sich die Elemente für eine wirksame Intervention ableiten. Dazu gehören: die schnelle Festlegung bindungserhaltender Kontaktregelungen zur Vermeidung längerer Kontaktunterbrechungen, vereinbart oder gerichtlich verfügt (Rudolph, 2019); die Minderung der situativen Konfliktbelastung für das Kind durch die Praktizierung paralleler Elternschaft (Kontaktunterbrechung der streitenden Eltern voneinander, nicht des Kontaktes der Eltern zum Kind (!), Herstellung der Übergänge des Kindes zwischen den Elternhäusern vermittelt über den neutralen Raum von Kita, Schule, neutrale Dritte; Psychoedukation der Eltern durch Aufklärung über die Zusammenhänge und beschädigenden Folgen von Eltern-Kind-Entfremdung; der Abbau von Partnerabwertung und die Rückgewinnung des Blicks der Eltern auf die emotionalen Bedürfnisse ihres Kindes sowie Hinführung der Eltern zu bindungsfürsorglichem Verhalten durch psychologische Beratung, Elterncoaching und Elterngruppentrainings ( (van Lawick & Visser, 2017) (Keil de Ballón, 2018); professioneller psychologischer Beistand für das Kind (pädagogische Unterstützung, Teilnahme an Trennungskindergruppe); Vermittlungsgespräche und praktische Kontaktherstellung (!) zwischen dem Kind und der abgelehnten Elternperson (Behrend, 2013) durch das Öffnen von Kontaktwegen (Brief, Telefon, Mail, Smartphone), die Herbeiführung positiv gestalteter Begegnungen zwischen dem Kind und dem ausgegrenzten Elternteil.

 

Der Jugendhilfe steht hierzu ein Bearbeitungsmodell zur Verfügung: In der Praxis bewährt hat sich eine Kombination aus Beratung/Coaching für beide Eltern (§28 SGB VIII) durch Fachkräfte der Familienberatung in Verbindung mit dem Einsatz einer Fachkraft der sozialpädagogischen Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) oder eines Erziehungsbeistands (§ 30 SGB VIII) als neutrale Instanz für das Kind bzw. den Jugendlichen. Erforderlich ist dabei ein eng abgestimmtes Teamwork aller beteiligten Fachkräfte und Institutionen (Rudolph, 2007).

 

Eine wesentliche Schwierigkeit besteht darin, dass die betroffenen Eltern in der Regel kein einheitliches Problembewusstsein über das Phänomen und eine eher konträre Motivlage zur Bearbeitung der familiären Situation haben. Während die Elternperson ohne Kontakt zum Kind Leidensdruck empfindet und um institutionelle Hilfe nachsucht, sieht die mit dem Kind zusammenlebende Elternperson meist keinen Handlungsbedarf und möchte vor allem in Ruhe gelassen werden. Die Chancen für das freiwillige Einlassen beider Eltern auf Beratung und Veränderung sind deshalb meistenteils gering. An dieser Stelle kann sich die Jugendhilfe dementsprechend nicht allein auf freiwillige Beratungsangebote beschränken (Fischer, 1998).

 

Elternverhalten und eine Familiendynamik, die Kinder und Eltern fortgesetzt einer schweren psychischen Belastung mit erheblichen negativen Folgewirkungen für die kindliche Entwicklung aussetzen, tragen allerdings deutliche Merkmale einer Gefährdung des Kindeswohls.

 

Insofern steht die Jugendhilfe hier in der  Pflicht, durch aktive Intervention – auch unter Rückgriff auf die Möglichkeit der Auflagenerteilung gemäß § 1666 BGB zur verpflichtenden Inanspruchnahme von Hilfe zur Erziehung und Beratung - diese Gefährdung abzuwenden.

 

Von der Jugendhilfe kann erwartet werden, dass sie im Fall drohender oder eingetretener Eltern-Kind-Entfremdung aktiver als sie dies bisher tut, eingreift und handelt.

 

05.05.2021

 

Dr. Marc Serafin

 

Zur Person:

Marc Serafin, Dr. phil. Dipl. Soz. Arb., ist Sozialwissenschaftler und leitet das Jugendamt der Stadt Sankt Augustin (bei Bonn). Er ist Initiator des Arbeitskreises Elternschaft nach Trennung und Scheidung im Rhein-Sieg-Kreis und Lehrbeauftragter am Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule NRW in Köln.

 

Literatur:

Alberstötter, U. (2013). Gewaltige Beziehungen - Verfügungsgewalt in eskalierten Elternkonflikten. In M. Weber, & et al., Beratung von Hochkonfliktfamilien (S. 117-145). Weinheim/Basel.

 

Behrend, K. (2009). Kindliche Kontaktverweigerung nach Trennung der Eltern aus psychologischer Sicht. Entwurf einer Typologie. Dissertation, Universität Bielefeld . Bielefeld.

 

Behrend, K. (2013). Umgangsstörung und Umgangsverweigerung. Zur Positionierung des Trennungskindes im Elternkonflikt. In M. Weber, & et al., Beratung von Hochkonflikt-Familien (S. 232-255). Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

 

Behrend, K. (2019). Eltern Kind Entfremdung - ein Beziehungsdrama mit Folgen. Sozialmagazin, 5.6_2019.

 

Boch-Galhau, W. v. (13. 04 2018). Parental Alienation (Syndrome) – Eine ernst zu nehmende Form von psychischer Kindesmisshandlung. 32, S. 133–148. Springer VS. doi:https://doi.org/10.1007/s40211-018-0267-0

 

Bowlby, J. (2018 (1988)). Bindung als sichere Basis. München: Ernst Rheinhardt Verlag.

 

Fischer, W. (1998). The Parental Alienation Syndrome (PAS) und die Interessenvertretung des Kindes – ein kooperatives Interventionsmodell für Jugendhilfe und Gericht. Nachrichtendienst des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge _NDV, Heft 10/98, S. 306-310 und Heft 11/98, 343-348.

 

Gardner, R. A. (2002 (2010)). Das elterliche Entfremdungssyndrom. Berlin: VWB.

 

Grossmann, K., & Grossmann, K. (2014). Bindungen - Das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart.

 

Jopt, U. (2002). Die Trennungsfamilie - Eine systemische Betrachtung. In E. Bergmann, & et al., Lösungsorientierte Arbeit im Familienrecht (S. 51-76). Köln: Bundesanzeiger Verlag.

 

Keil de Ballón, S. (2018). Hocheskalierte Elternkonflikte nach Trennung und Scheidung. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

 

Papa Mama Auch - Verband für Getrennterziehen, V. (Hrsg.). (2021). Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht in Deutschland. Von https://www.papa-mama-auch.de/zustandsbericht-familienrecht-in-d/ abgerufen

 

Reiners, G., & Schmelter, Gerrit. (2019). Beratungskonzepte der Familienberatungsstellen. Sozialmagazin, 5-6, S. 65-71.

 

Rudolph, J. (2007). Du bist mein Kind - Die Cochemer Praxis - Wege zu einem menschlicheren Familienrecht. Berlin .

 

Rudolph, J. (5_6 2019). Zusammenwirken im Familienkonflikt: Die Cochemer Praxis. Sozialmagazin, S. 53-57.

 

Temizyürek, K. (6 2014). Das Stufenmodell der Bindungsfürsorge. ZKJ. Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, S. 228-231.

 

van Lawick, J., & Visser, M. (2017). Kinder aus der Klemme. Heidelberg: Carl-Auer.

 

Watzlawick, P., & et al. (2011 (1969)). Menschliche Kommunikation - Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber. 



Hinweis: Themenheft "Elterliche Trennungen" im Sozialmagazin

Diese Ausgabe entstand unter der Redaktion von Dr. Marc Serafin und Prof. Hildegund Sünderhauf, erschienen im BELTZ Verlag, Ausgabe Mai/Juni 2019.

Lesenswert für Betroffene und Fachkräfte.



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