Der EGMR verweist in seinen Erwägungen auf ein Gutachten, welches zum Schluss kam, dass die Alienation der Kinder von ihrer Mutter emotionaler Missbrauch sei. [89] In der Folgeerwägung führt er aus, dass die Beschwerdeführerin vor dem Hintergrund, dass keine Massnahmen existierten, um «die Kinder vor dem sich gegenwärtig abspielenden emotionalen Missbrauch zu schützen», die ihr verfügbaren Massnahmen getroffen habe. [90]
Unter „Allgemeine Grundsätze“ urteilt der EGMR wie folgt:
Unter Satz 63:
„Der Gerichtshof wiederholt, dass, obwohl der primäre Zweck von Artikel 8 darin besteht, den Einzelnen vor willkürlichen Handlungen von Behörden zu schützen, es darüber hinaus positive Verpflichtungen gibt, die mit der effektiven "Achtung" des Familienlebens verbunden sind (siehe, neben anderen Behörden, Glaser v. the United Kingdom, no. 32346/96, § 63). Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass der Staat in Fällen, die das elterliche Umgangsrecht betreffen, grundsätzlich verpflichtet ist, Maßnahmen zu ergreifen, um Eltern mit ihren Kindern wieder zusammenzuführen, und dass er verpflichtet ist, solche Zusammenführungen zu erleichtern, sofern das Interesse des Kindes es gebietet, alles zu tun, um die persönlichen Beziehungen zu erhalten (siehe u.a. Hokkanen v. Finnland, Nr. 19823/92, § 55, 23. September 1994, Ignaccolo-Zenide v. Rumänien, Nr. 31679/96, § 94, EGMR 2000-I, und A.V. v. Slovenia, Nr. 878/13, § 73, 9. April 2019).“
Unter Satz 64:
„Die Verpflichtung der nationalen Behörden, Maßnahmen zur Erleichterung einer Zusammenführung zu ergreifen, ist jedoch nicht absolut, da eine Zusammenführung zwischen einem Elternteil und einem Kind, das einige Zeit bei anderen Personen gelebt hat, möglicherweise nicht sofort stattfinden kann und vorbereitende Maßnahmen erfordern kann (ebd., § 58; siehe auch Ribić gegen Kroatien, Nr. 27148/12, § 94, 2. April 2015, und A.V. gegen Slowenien, a.a.O., § 74). Entscheidend ist daher, ob die inländischen Behörden alle erforderlichen Schritte zur Erleichterung des Kontakts unternommen haben, die unter den besonderen Umständen des jeweiligen Falls vernünftigerweise verlangt werden können (siehe sinngemäß Kuppinger gegen Deutschland, Nr. 62198/11, § 101, 15. Januar 2015, und A.V. gegen Slowenien, a.a.O., § 74).“
Unter Satz 65:
„Es gibt derzeit einen breiten Konsens darüber, dass bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, deren bestes Interesse im Vordergrund stehen muss (siehe Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz [GC], Nr. 41615/07, § 135, 6. Juli 2010, X. v. Latvia [GC], no. 27853/09, § 96, ECHR 2013 und Strand Lobben and Others v. Norway [GC], no. 37283/13, § 179, 10. September 2019). Die Interessen des Kindes können, je nach Art und Schwere, Vorrang vor denen der Eltern haben. Insbesondere kann ein Elternteil nach Artikel 8 keinen Anspruch darauf haben, dass Maßnahmen ergriffen werden, die der Gesundheit und der Entwicklung des Kindes schaden würden (siehe z. B. V.D. und andere gegen Russland, Nr. 72931/10, § 114, 9. April 2019). Die Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt zwar, dass die Ansichten der Kinder berücksichtigt werden, aber diese Ansichten sind nicht notwendigerweise unveränderlich, und die Einwände der Kinder, denen gebührendes Gewicht beigemessen werden muss, reichen nicht notwendigerweise aus, um die Interessen der Eltern aufzuheben, insbesondere ihre Interessen an einem regelmäßigen Umgang mit ihrem Kind (siehe K.B. und andere gegen Kroatien, Nr. 36216/13, § 143, 14. März 2017). Insbesondere sollte das Recht der Kinder, ihre eigene Meinung zu äußern, nicht so ausgelegt werden, dass ihnen effektiv ein bedingungsloses Vetorecht eingeräumt wird, ohne dass andere Faktoren in Betracht gezogen werden und eine Prüfung zur Bestimmung des Kindeswohls durchgeführt wird (A.V. gegen Slowenien, a. a. O., § 72).“
Unter Satz 66:
„In Fällen, die die Beziehung einer Person zu ihrem Kind betreffen, besteht die Pflicht, außergewöhnliche Sorgfalt walten zu lassen, angesichts des Risikos, dass der Zeitablauf zu einer faktischen Festlegung der Angelegenheit führen kann (siehe z. B. Ignaccolo-Zenide, a. a. O., § 102; Süß v. Germany, no. 40324/98, § 100, 10. November 2005; Strömblad v. Schweden, Nr. 3684/07, § 80, 5. April 2012; und Ribić, oben zitiert, § 92).“