Offener Brief an das Bundesministerium der Justiz vom 14. Mai 2024

zur anstehenden Reform des Familienrechts (als Antwort auf den Verbändebrief vom 27.03.2024) - Dieser steht ebenso als Download am Ende dieser Seite zur Verfügung.


Sehr geehrter Herr Dr. Buschmann,

 

uns liegt nunmehr das an Sie gerichtete gemeinsame Schreiben verschiedener Frauen- und Alleinerziehenden-Verbände zu den aktuellen Reformen des Familienrechts vom 27.03.2024 vor, auf das wir gerne Bezug nehmen möchten.

 

Wir stimmen darin überein, dass die angestrebten Reformen dringend notwendig sind und das Familienrecht die Bedarfe und Rechte der Kinder – nicht der Erwachsenen – stärker in den Blick nehmen muss. Ebenso sollten Trennungseltern das für sie individuell passende Betreuungsmodell frei wählen können – ohne sachfremde Fehlanreize. Die vorgetragenen Positionen wirken diesen Zielen jedoch diametral entgegen.

Gemeinsame Betreuung und Sorge

Es erstaunt, dass die Autorinnen einerseits eine bessere Verteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit fordern und gleichzeitig die paritätische Betreuung, die genau dies leistet, kategorisch ablehnen.

 

Die überflüssige Diskussion über Betreuungsmodelle wäre sofort beendet, wenn der Gesetzgeber endlich den Mut hätte, die rechtliche Hierarchisierung von Trennungseltern zu überwinden: Beide Eltern betreuen – möglicherweise zu unterschiedlichen Anteilen. Streitanreize würden reduziert, vieles wäre für Trennungsfamilien einfacher.

 

Ebenso gilt in den meisten westlichen Ländern seit Jahren die gemeinsame Sorge ab Geburt – ohne dass es dort zu den von den Autorinnen ausgemalten Katastrophen gekommen wäre. Möglicherweise, weil man „Sorge“ dort weniger als Recht der Eltern, sondern vielmehr als deren Verantwortung gegenüber dem Kind sieht.

 

Wir sehen daher keinen sachlichen Grund, warum man gleichberechtigte Betreuung und gemeinsame Sorge ab Geburt nicht endlich auch in Deutschland umsetzt.

Kindesunterhalt

Diskussionen zum Kindesunterhalt fokussieren in Deutschland oftmals allein auf die finanziellen Interessen der Mutter. Auch wird vielfach übersehen, dass Mutter und Kind verschiedene Personen sind. Wir möchten daher eindringlich dafür werben, endlich das Kind und seine Bedarfe in das Zentrum der Betrachtungen zu stellen.

  • Jedes Kind hat ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum.
  • Dieses Grundrecht auf das sächliche Existenzminimum ist dem Kind eigen. Es ist nicht veräußerbar und nicht übertragbar – auch nicht an den hauptbetreuenden Elternteil.
  • Dementsprechend besteht im Sozialrecht der Grundsatz, dass die Bedarfe des Kindes anteilig dort entstehen, wo sich das Kind aufhält. Die derzeitige unterhaltsrechtliche Annahme eines Bedarfes von null im zweiten Haushalt ist daher grundgesetzwidrig.
  • Mitbetreuung ist also gerade keine „Unterhaltsersparnis“ oder „Bedarfsreduktion“ (ganz im Gegenteil) und darf daher auch nicht als solche modelliert werden.

Der bestehende Widerspruch zwischen Unterhalts- und Sozialrecht muss aufgelöst werden, denn es kann nur eine Definition des kindlichen Existenzminimums geben.

 

Der Argumentation der Autorinnen über eine vermeintliche „Lebensverlaufsperspektive“ können wir nicht folgen und möchten klar herausstellen: Der Kindesunterhalt dient der Existenzsicherung des Kindes. Er ist kein nachgelagerter Betreuungsunterhalt, keine gleichstellungspolitische Entgeltersatzleistung und auch keine Kompensation für persönliche Lebensentscheidungen erwachsener Menschen.

 

Der Gesetzgeber muss die Tatsache anerkennen, dass ein Einkommen im Jahr 2024 bereits rein statistisch nicht mehr für die Finanzierung von zwei Haushalten ausreicht. Wir befürworten eine finanzielle Förderung der elterlichen Erziehungsarbeit. Aber dies kann nicht die Aufgabe des Kindesunterhalts und somit von Einzelpersonen sein, hier braucht es eine gesamtgesellschaftliche Lösung.

 

Für die Deckung der Bedarfe des Kindes fordern wir eine Gleichbehandlung beider Eltern im Sinne der Art. 3 und 6 GG und somit eine tatsächliche Umsetzung des auch von Ihnen formulierten Prinzips „beide betreuen, beide bezahlen“. Denn eine bessere Verteilung von Sorgeverantwortung kann systemisch nur bei einer gleichzeitig besseren Verteilung der Erwerbsverantwortung gelingen.

Gewaltschutz

Der Schutz vor Gewalt ist ein Menschenrecht und dessen Durchsetzung somit uneingeschränkt zu befürworten. In der aktuellen Diskussion wird jedoch versucht, über das an sich unterstützenswerte Ziel des Gewaltschutzes ein einseitiges Veto-Recht für Mütter durchzusetzen. Dies erfolgt strategisch durch drei Schritte:

  • Der Bezug zur Istanbul-Konvention (IK) eröffnet eine geschlechtsspezifische Täter-Opfer-Dichotomie, bei der Männer als Opfer und Frauen als Täterinnen oftmals nicht mitgemeint sind.
  • Durch einen ufer- und konturlosen Gewaltbegriff (Art. 3 IK) soll selbst die legitime Anrufung des Familiengerichts oder fehlende Unterhaltsfähigkeit in die Nähe eines Straftatbestands gerückt werden. Eine derartige Beliebigkeit widerspricht dem Willkürverbot und konterkariert den Schutz tatsächlicher Gewaltopfer.
  • Allein die Behauptung von Gewalt soll „präventiv“ zum Kontaktabbruch zum Kind führen können und der Gewaltvorwurf so einer gerichtlichen Überprüfung entzogen werden. Eine derartige Beweislastumkehr widerspricht grundlegenden rechts-staatlichen Prinzipien, was den Autorinnen auch bewusst sein müsste.

Jeder Mensch hat ein Grundrecht auf Schutz vor Gewalt. Ein geschlechtsspezifisches Straf- oder Familienrecht verstößt gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 3 GG und ist daher unzulässig.

 

Wir verurteilen, dass das Problem der induzierten Kontaktabbrüche demgegenüber nicht thematisiert und auch im Eckpunktepapier des BMJ nicht benannt wird. Hier besteht eine nicht nachvollziehbare Leerstelle beim Gewaltschutz.

 

Es ist wohl unstrittig, dass das Kind ein Menschenrecht auf Beziehung zu beiden Eltern hat (Art. 9 UNKRK, Art. 24 EU-Grundrechtecharta). Induzierte Kontaktabbrüche sind Menschenrechtsverletzungen und psychische Gewalt gegen das Kind und den anderen Elternteil. Kindesentziehung (§ 235 StGB), prozesstaktische Falschbeschuldigungen (§ 164 StGB) oder sonstige Verletzungen der Fürsorgepflicht (§ 171 StGB) werden in Deutschland jedoch regelhaft nicht verfolgt und einseitig eskalierendes Verhalten eines Elternteils somit nicht begrenzt. Derartige Inaktivität ist Ursache für die zahlreichen Verurteilungen der Bundesrepublik in Familiensachen durch den EGMR. Dieser unhaltbare Zustand muss beendet werden.

Schlussbemerkung

Die Zivilgesellschaft erwartet ein Familienrecht, das

  • im Einklang mit dem Grundgesetz steht,
  • gemeinsame Verantwortungsübernahme auch nach einer Trennung fördert,
  • eskalierendes Elternverhalten sanktioniert und begrenzt,
  • möglichst frei von sachfremden (finanziellen) Fehlanreizen ist,
  • das Existenzminimum von Kindern und Eltern in beiden Haushalten garantiert und
  • einem bestehenden Erwerbsanreiz nicht zuwider läuft.

Das aktuelle Familienrecht deckt keinen dieser Punkte ab. Die dringend notwendigen Reformen müssen von einer möglichst breiten gesellschaftlichen Basis getragen werden. Der dafür notwendige Austausch findet jedoch derzeit nicht ausreichend statt bzw. wird in Teilen bewusst vermieden.

 

Wir fordern daher einen breiten zivilgesellschaftlichen Dialog, auch unter Einbeziehung der beteiligten Professionen und deren Verbände. Denn nachhaltige Familienpolitik lässt sich nicht gegen die Hälfte der Bevölkerung gestalten – weder gegen die eine noch gegen die andere.

 

Die unterzeichnenden Verbände stehen gerne für Rückfragen und konstruktive Gespräche zur Verfügung.

Download
Schreiben verschiedener Frauen- und Alleinerziehenden-Verbände an den Bundesjustizminister vom 27.03.2024
240327_Verbändebrief Familienrechtsrefor
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Download
Antwort des Netzwerks für Trennungsfamilien an den Bundesjustizminister
202405_BMJ_6 Verbände_Offener Brief_FIN.
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Transparenzhinweis

Die unterzeichnenden Frauen- und Alleinerziehenden-Verbände des Schreibens vom 27.03.2024 wurden im Jahr 2022 in Höhe von 3,77 Mio. Euro vom Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) gefördert (Quelle).

 

Die Verbände im Netzwerk für Trennungsfamilien, die sich für gemeinsame Erziehung und den Erhalt beider Eltern einsetzen, erhalten hingegen keine Förderung vom BMFSFJ. Wir finanzieren unsere ehrenamtliche Tätigkeit durch private Spenden und Beiträge unserer Mitglieder.

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