Der große

Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht

in Deutschland 2020 / 2021


8. Bewertungen, Kommentare und Einordnungen von Experten


Anna Pelz

Anna Pelz, Bad Sooden-Allendorf

 

 

Soziologin

 

Systemische Therapeutin

 

Elterncoach mit dem Schwerpunkt Eltern-Kind-Entfremdung


Die entfremdete Gesellschaft: Mittendrin, statt nur dabei.

 

Vor mir sitzt Paul*. Paul wurde von seinem Vater zu mir ins Coaching gebracht. Der Vater sitzt dabei, mit einer sehr besorgten Miene, und erzählt und erzählt und erzählt. Währenddessen sitzt Paul gebückt da, weicht meinem Blick aus. Ich unterbreche den Redefluss des Vaters und frage Paul, wie es ihm gehe. Eine sehr einfache Frage. Paul richtet sich auf, antwortet nicht. Er holt Luft. Der Vater ergreift stattdessen wieder das Wort. Fordert Paul auf, zu antworten. Paul lehnt sich wieder zurück, zuckt mit den Schultern. Ob ich denn jetzt verstehen würde, fragt mich der Vater. Das habe er gemeint, als er mit mir einen Beratungstermin vereinbarte. Genau das. Der Junge mache ihm einfach nur Sorgen. Schweigsam. Bockig. Unselbständig. So undankbar.

Wie komme er mit seiner Mutter aus, frage ich den Paul. „Mutter?“, fragt der Vater. „Mutter?“ wiederholt er lauter. Die sei weg, es gebe keinen Kontakt. Die sei auch so bockig gewesen. Und unersättlich. Nur zahlen durfte er und die habe nur rumgenörgelt. Faul sei sie gewesen, nie einen Job gehabt. Er hat sich für die Familie halb tot geschuftet. Einen Herzinfarkt habe er bekommen, nur damit seiner Frau und dem Kind nichts fehle. Nach einem Burnout habe er sich von dieser Blutsaugerin getrennt. Seitdem tue er alles für den Jungen. Und so bedanke er sich jetzt.

Paul flüchtet mit dem Blick und lehnt sich in seinem Stuhl möglichst weit weg von seinem Vater. Er solle sich ordentlich hinsetzen, fordere ihn der Vater auf. Der Junge sei eigentlich ein lieber Junge. Wenn er nur nicht so undankbar wäre, er müsse sich ändern, deshalb habe der Vater ihn zu mir gebracht…

Der „Junge“ ist zum Zeitpunkt dieses Gesprächs 29 Jahre alt. Er wurde von seinem Vater zu mir gebracht, weil er keinen Führerschein hat und allein nie das Haus verlässt. Er wohnt bei seinem Vater im Keller, hat keine Freunde oder anderweitigen sozialen Kontakte mit Ausnahme von Mitgliedern einer Fantasy-Community im Internet. In seinem Leben hatte er bisher nur einige kurze Gelegenheitsjobs, den letzten vor 3 Jahren, hat keine Ausbildung abgeschlossen, noch keine Beziehung gehabt. Wolle auch keine. Er wolle auch nicht arbeiten, offenbart er mir irgendwann, als der Herr Papa endlich den Mund hält. Etwas Neues lernen wolle er auch nicht, kein Interesse. Was er dann im Leben so vorhabe? Nichts, eigentlich. Die Zeit absitzen.

Genau das habe er gemeint, kämpft sich der Vater wieder verbal in den Vordergrund. Genau das. Ob ich endlich verstehen würde? Diese ewige Lustlosigkeit, Miesepetrigkeit, Ablehnung. Ganz wie seine Mutter, diese nimmersatte Zecke. Die hat ständig auch nur rumgeheult. Was wolle der Junge noch? Ob er nicht sehe, dass der Vater alles für ihn tue?

 

Vor mir sitzt Jessi*. Jessi ist 33 und hat einen 8-jährigen Sohn. Vom Vater des Kindes habe sie sich getrennt erzählt sie, als der Kleine gerade 1,5 gewesen sei. Und jetzt mache der Vater Stress wegen der Umgänge. Sie verstehe nicht, was er wolle. Kontakt gebe es ja, der Junge soll nicht ohne Vater aufwachsen. Aber sie habe zwischenzeitlich wieder geheiratet. Ihr Sohn habe von selbst angefangen, zu ihrem neuen Mann „Papa“ zu sagen – da könne sie ja nichts für. Der neue Partner habe selbst ein Kind aus einer früheren Beziehung, die Mutter sei so ein Biest, wolle das Mädchen kaum zum Vater lassen. Aber es sei doch schön, dass der Kleine jetzt hin und wieder eine Schwester und einen richtigen Papa habe, der immer da ist, das gebe ihm Halt. Der leibliche Vater sei wichtig, natürlich – antwortet Jessi auf meine Frage hin. Sie tue auch schon alles, damit der Kontakt erhalten bleibe. Der Kleine wolle nur von selbst nicht. Da könne sie auch nichts für. Es sei halt so. Sie könne ihr Kind doch nicht zwingen. Und gut verstehen könne sie es. Ihr eigener Vater sei auch so ein Mistkerl gewesen und als Kind war sie froh, als sie ihn nicht mehr sehen musste. Ein richtiges Arschloch, er habe das Geld von ihrem Sparbuch versoffen und habe sich nie um sie gekümmert. Er habe mit ihr nie gespielt oder gekuschelt, ihre Mutter musste alles allein machen. Wie alt Jessi denn gewesen sei, frage ich, als die Eltern sich trennten? So wie ihr Sohn bei ihrer eigenen Trennung, anderthalb.

Sie habe ein erstaunlich gutes Gedächtnis, sage ich. Jessi bestätigt zunächst, zögert dann. Eigentlich habe sie das von ihrer Mutter gehört, gesteht sie. Aber das stimme schon. Der Vater hätte sich doch in all den Jahren melden können. Habe er aber nicht.

Jessi ist Studentin. Schon seit 13 Jahren studiert sie. Sie könne nur die Prüfungen momentan nicht angehen, wegen Corona. Das sei schwierig. Und davor? Ja, davor, da habe sie halt viel mit dem Kleinen zu tun gehabt. Sehr viel. Alleinerziehend zu sein sei eben kein Zuckerschlecken. Sie wolle, dass ihr Kind eine bessere Kindheit habe als sie selbst. Sie würde alles dafür tun, notfalls eben auf Kosten ihrer eigenen Karriere.

Wie wäre es denn, wenn sie den Kindesvater mit einbeziehen würde, damit er sie entlaste? Jessi richtet sich ruckartig auf, ein kurzer Tick huscht über ihr Gesicht. Sie ist magersüchtig, das sehe ich ihr an. Sie schluckt und macht dabei eine eigenartige Kopfbewegung. Sie überlegt krampfhaft. Sie stammelt etwas vor sich hin, dass das Kind es eben nicht wolle und sie es nicht zwingen könne, außerdem würde es aufgrund der räumlichen Entfernung nicht gehen. Und Corona gebe es ja auch, der Kindesvater sei herzkrank, das werde ihm zu gefährlich sein.

Es ist schön, dass sie sich so um ihren Exmann sorge, werfe ich ein. Aber es gebe sicherlich Möglichkeiten. Die Sorge um die Entfernung und um Corona würde ich dem Vater selbst überlassen. Und das Kind könne sich es bis dahin noch überlegen.

Jessi zieht die Augenbrauen zusammen. Der Kleine werde nein sagen, das wisse sie ganz sicher. Sie lächelt anschließend, zeigt mir vielmehr ihre Zähne. Die Augen lächeln nicht mit.

 

Es sind eben nur Einzelfälle – würde an dieser Stelle die Politik sagen.

Eben, ich kenne niemanden, der davon betroffen ist – würde ein durchschnittlicher Leser beipflichten.

 

Weit gefehlt.

Wir leben bereits inmitten einer entfremdeten Gesellschaft und eine ganze neue Generation von entfremdeten Kindern wächst bereits heran.

 

Eine simple Rechnung: Als Geburtsstunde von PAS nehme ich einfach das Jahr 1985 an, als Richard Gardner das Phänomen beschrieben und als Parental Alienation bezeichnet hat – auch wenn diese Misshandlungsform selbst auch schon davor existierte, vermutlich so lange, wie es von Rache gesteuerte Eltern gibt, also schon immer.

Wir schreiben das Jahr 2021. Dem „Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht“ zufolge verlieren ca. 30.000 bis 40.000 Kinder jährlich den Kontakt zu einem Elternteil aufgrund von induzierter Entfremdung. 35000 Kinder im Schnitt. Jährlich. Allein in diesen 36 Jahren haben also circa 1.260.000 Kinder den Kontakt zu einem Elternteil verloren, weil sie entfremdet wurden. In diesen 36 Jahren verloren auch ca. 1.260.000 Eltern den Kontakt zu ihren Kindern.

Hinzu kommen noch die 1.260.000 entfremdende Elternteile, deren Verhalten auf tiefgehende psychische Problematiken hinweist, wodurch sie zwar die Verursacher von PAS, doch gleichzeitig selbst Betroffene sind, für die das Entfremden zu einer pathologischen Überlebensstrategie geworden ist.

 

Wir leben inmitten einer entfremdeten Gesellschaft. Fast vier Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Deutschland sind gegenwärtig von PAS betroffen. Manche von den Betroffenen leiden still, wie der Paul. Sie leben in einer sicheren Nische, verlassen kaum ihre vier Wände und flüchten sich in Fantasiewelten. Andere wählen das ewige Studium als eine Strategie, dem Leben zu entfliehen oder hoppen von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob. Noch andere wiederum dagegen tarnen sich, leben ein scheinbar völlig normales Leben: arbeiten erfolgreich, heiraten, gehen jeden Donnerstag zum Yoga und fliegen in den Urlaub auf Malle. Nur schlafen können sie nicht, aber da hilft ein Glas Wein, oder gleich zwei, oder eine Tablette. Oder alles zusammen eben. Und das Essen ist auch so eine Sache. Der Arzt sagt, ihr Blutdruck sei katastrophal trotz der veganen Ernährung und diese juckende Stelle am Bauch, die nicht weggeht und die sie immer wieder aufkratzen, bis sie blutet, die sei psychosomatisch. Der Psychologe rät zu einem längeren Klinikaufenthalt, aber das dürfe man sich nicht erlauben, sonst würde es auffallen. Also wird so weitergemacht. Solange die Kräfte reichen.

 

Wir leben inmitten einer entfremdeten Gesellschaft. Ich gehe davon aus, dass jeder von uns mindestens ein Opfer von PAS kennt: ein Kind, einen Erwachsenen, der als Kind oder später als Elternteil entfremdet wurde oder der selbst entfremdet. Es kann eine Arbeitskollegin von Ihnen sein. Es kann das Nachbarskind sein. Ihr Chef. Die Mutter Ihrer neuen Partnerin. Der Trainer im Sportverein. Die Lehrerin Ihres Kindes. Der neue Freund Ihrer Tochter. Auch ein Familienrichter kann zu den einst entfremdeten Kindern gehören, er kann aber auch als Vater entfremdet worden oder selbst ein Entfremder sein.

 

Wir leben inmitten einer entfremdeten Gesellschaft, sind mittendrin, statt nur dabei. Deshalb geht PAS uns alle an.

 

„Ich hätte mir gewünscht, dass jemand von außen mein Leid und mich sieht und etwaige Schritte zur Hilfe einleitet“ – gestand mir in einem Interview für meinen Blog eine Frau, einst ein entfremdetes Kind.

 

Gehen wir es an.

 

Anna Pelz

 

*Namen geändert, Fälle anonymisiert


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