Der große

Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht

in Deutschland 2020 / 2021


8. Bewertungen, Kommentare und Einordnungen von Experten


Dipl.-Psych. Friederike Dushe

Friederike Dushe, Braunschweig

 

Diplom-Psychologin & Psychotherapeutin

 

Im Vorstand des Verbands Niedersächsischer Schulpsychologen (VNS)

 

Fast 20jährige Erfahrung in der Arbeit als Schulpsychologische Dezernentin 


Zur psychologischen Einordnung der Datenlage: Wie wirkt sich Eltern-Kind-Entfremdung (EKE) auf Psyche, Gesundheit und das Leben aus?

 

Das Alter der Kinder lag bei stattgefundenem Kontaktabbruch zu 95 % der Angaben vor dem 12. Lebensjahr, in einem Entwicklungszeitraum also, in dem die Identitätsentwicklung bei weitem noch nicht abgeschlossen, jedoch entscheidend für das Erleben von Selbstwert ist und bei erlebtem Identitätsverlust zu teils schweren psychischen Folgen führen kann. Diese Kinder können somit die Zugehörigkeit zu einem Teil ihrer Familie nicht erleben, was allerdings notwendig für ihre Identitätsbildung wäre. Auch die berichteten Auswirkungen auf den weiteren Familien- und Freundeskreis sind enorm; damit bleiben Trauer und Hilflosigkeit im näheren Umfeld als belastendes und teils bestimmendes Thema hängen.

 

Kitas, Schulen, Kinderarztpraxen und Beratungsstellen wissen grundsätzlich um die Thematik, da sie von Eltern darauf angesprochen und um Unterstützung gebeten werden. Gleichzeitig werden die Erfahrungen mit Unterstützung, vor allem im Bereich der Familienberatung und insbesondere des Jugendamtes zu großem Anteil als unbefriedigend erlebt, als nicht neutral bzw. als nicht zielführend im Sinne einer Problemlösung; der Erfolg wird eher als zufällig erlebt. Umso bedeutsamer wird dies, da die Empfehlungen des Jugendamtes vom Familiengericht in der Regel als wichtigste Entscheidungsgrundlage verwendet werden: diese Situation erleben Betroffene als Verlust von Kontrolle, als Ohnmacht.

 

Neben dem jeweils anderen Elternteil wird ein nicht unerhebliches Maß an Urheberschaft von EKE den Unterstützung anbietenden bzw. um Unterstützung angefragten Institutionen zugeschreiben, wobei das Jugendamt sowie die anwaltliche Vertretung des anderen Elternteils besonders im Fokus der Urheberschaft gesehen werden. Die Datenlage bzgl. der daraus resultierenden Konsequenzen für den betroffenen Elternteil lässt die Vermutung zu, dass es sich hier zu einem nicht unerheblichen Teil um massive psychische Folgestörungen handelt: neben teils pathologischen Trauerreaktionen und depressiven oder Angststörungen auch Traumafolgestörungen. Die Erfahrungsberichte lassen die Vermutung aufkommen, dass es nicht selten zu Posttraumatischen Belastungsstörungen kommt, welche zu den schweren psychischen Störungen zählen und zu erheblichen Belastungen und Einschränkungen auf der Erlebensebene, der sozialen Ebene sowie auf der Verhaltensebene führen. Die Folgen sind enorm: Beziehungen können nicht mehr zufriedenstellend gelebt werden, Gefühle von Kontrollverlust und Vertrauensverlust in die Welt und Menschlichkeit sind überwältigend, die Konzentrations- und Arbeitsfähigkeit erlebt massive Einbußen bis hin zu wirtschaftlich-existentiellen Bedeutsamkeit. Nicht selten kommt es dabei auch zu erhöhtem Alkohol- oder Drogengebrauch oder zu suizidalen Phantasien oder Planungen.

 

Zur Einordnung der Psychologie im Themenfeld von Eltern-Kind-Entfremdung: Die Psychologie als „Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen“ ist zunächst mal eine beschreibende Wissenschaft, die auf intra- und interindividueller Ebene Erklärungen und Modelle zum Verständnis anbietet, aus denen sich wiederum Interventionen für Veränderungen ableiten lassen. Somit kann Psychologie die Dynamik der beteiligten Menschen und damit auch typische Phänomene im Zusammenhang von Trennungsfamilien beschreiben. Vor einer Zieldefinition können aus diesen Erkenntnissen heraus Interventionen abgeleitet werden, wobei das Ziel ein selber gewähltes der Eltern oder auch im Fall der Nicht-Einigung der Eltern ein politisch-gesellschaftliches Ziel sein kann und Interventionen als Vorschlag den Eltern oder aber auch Entscheidungsträgern angeboten werden können.

 

Von ganz zentraler Bedeutung im Zusammenhang mit EKE sehe ich Möglichkeiten zur Professionalisierung in Form von  Wissensvermittlung, Fortbildung sowie Supervision oder Fallbesprechung für alle beteiligten Professionen und Institutionen. Das Wissen um typische Phänomene einer Trennungsfamilie, das Erkennen der Dynamik und die sensible Bewertung der möglichen Folgen sind von entscheidender Bedeutung für ein professionelles Agieren.

 

Grundsätzlich kann eine psychologische Beratung oder – bei einer diagnostizierten psychischen Störung – eine psychotherapeutische Behandlung die Betroffenen unterstützen. Psychologische Beratung kann prozessbegleitend (nicht nur im juristischen Sinne!) Unterstützung anbieten. Während eines Gerichtsverfahrens allerdings ist eine authentische Arbeit aufgrund der in der Regel unterschiedlichen Ziele der Verfahrensbeteiligten kaum möglich, da es zu einer Verlagerung der juristisch verfolgten Ziele, bzw. der gerichtlichen Aufgaben in die psychologische Beratung kommt. Die Beratung kann also tendenziell zweckentfremdet bzw. die Verantwortung für Entscheidungen verlagert werden.

 

Fachlich ist Folgendes dabei immer auch kritisch zu betrachten: Ethisch stellt sich die Frage, inwieweit eine induzierte Störung durch grundsätzlich veränderbare äußere Entscheidungen behandelt werden kann. Die Psychologie ist nicht darauf ausgerichtet, ein bestimmtes von Dritten formuliertes Ziel zu erreichen. Verantwortlichkeiten, die an anderer Stelle verortet werden müssen, wie z.B. juristische Entscheidungen, können nicht an die Psychologie delegiert werden. Zudem braucht es einen Blick auf die fachlichen Möglichkeiten: Eine Traumafolgestörung z.B. ist unbedingt behandlungswürdig, reaktive Störungen sind in der Regel auch psychotherapieindiziert. Anhaltende Belastung/ Traumatisierung (hier ggf. auch der Nicht-Kontakt zum eigenen Kind) verhindert einen Therapieerfolg.

Krisenintervention kann unterstützen, ersetzt aber keine indizierte Psychotherapie.

 

Zur Entwicklung von psychologischen Aspekten:

 

Auch die Psychologie selber hat noch großen Entwicklungsbedarf bei der Thematik der Eltern-Kind-Entfremdung. Eine in die gängigen Klassifikationssysteme (z.B. ICD, DSM) aufzunehmende entsprechende Diagnose ist umstritten. Deutlich weniger umstritten sind das psychodynamische Geschehen und Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung. Zwar gibt es bereits brauchbare Theorien und Modelle (vgl. Parental Alienation Study Group https://pasg.info/ ); diese sind aber vor allem im deutschsprachigen Raum noch zu wenig bekannt, auch unter psychologischen Fachleuten.

 

Das Angebot an Familien, im besten Fall einer Eltern-Kind-Entfremdung vorzubeugen, ist auszubauen über Psychoedukation und psychologische Unterstützung, auch über Institutionen wie Kindergärten und Schule.

 

Professionelle Rollen- und Aufgabenklärung:

 

In den Fällen, in denen Eltern sich nach einer Trennung auf Paarebene nicht einig werden können, wie sie die Betreuungssituation ihrer Kinder gestalten möchten, haben wir es mit unterschiedlichen Fragestellungen zu tun, überwiegend aus dem psychologischem, dem juristischen sowie dem pädagogischen Bereich. Meiner Erfahrung nach gehen diese drei Fragestellungen im Rahmen von Beratungs- oder juristischen Prozessen häufig durcheinander. Das führt tendenziell zu Handlungsunsicherheiten, zu Unklarheiten in der jeweiligen Verantwortlichkeit, zu wenig fundierten Entscheidungen und, wie die vorliegende Arbeit und die Betroffenenberichte wiedergeben, damit nicht selten zu schwerwiegenden Folgen wie Sekundärtraumatisierungen aufgrund der Erlebnisse im Zusammenhang mit ebenjenen Institutionen oder professionellen Personen.

 

Die zur Verfügung stehende Zeit zur Bearbeitung eines Gerichtsverfahrens muss in angemessener Relation zur Bedeutsamkeit des Ergebnisses stehen. Psychologisch führt die gängige Bearbeitungszeit (siehe Datenlage) tendenziell dazu, dass bei geringer zur Verfügung stehender Zeit nicht alle bedeutsamen Aspekte erörtert werden können, eher schnelle Entscheidungen getroffen werden (müssen), die nicht selten Wahrnehmungs- und Beurteilungsfehlern unterliegen, die in eine dann deutlich subjektivere Entscheidung münden. Insbesondere bei dem Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung lassen sich die Dynamiken nur dann erkennen, wenn es möglich ist, sich der Familie zeitlich zu widmen, den Entwicklungsprozess dieser Familie nachvollziehen zu können und die Erlebens- und Verhaltensweisen insbesondere der Kinder zu verstehen und psychologisch zu übersetzen.

 

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, tiefer einzusteigen in die psychologische Betrachtung der Gesamtsituation familiärer Trennungsanliegen, genauso wie mehr als einen tendenziellen Ausblick zu geben auf notwendige psychologisch-fachliche Entwicklungsaufgaben sowie die Klärung der jeweils professionellen Rollen und Aufgaben bzw. der interprofessionellen Zusammenarbeit.

 

Ich wünsche den Initiatoren dieser wertvollen Arbeit, dass die Ergebnisse ernst genommen werden, zu weiterem wissenschaftliche Interesse führen und einen Impuls zur Verbesserung der Situation von Trennungsfamilien auslösen.

 

Ein meiner Meinung nach wichtiges Kriterium für erfolgreiche Unterstützung dieser Familien wäre genau dieses: wie zufrieden zeigen sich Eltern damit, inwieweit sie als Mutter oder Vater in den Entwicklungsprozess ihrer Kinder einbezogen sind.

 

Friederike Dushe


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