Zum EGMR-Urteil gegen Italien (Okt. 2021):

Zitat aus dem Urteil 29786/19 gegen Italien vom 07. Oktober 2021:
"Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass sich die positiven Verpflichtungen nicht darauf beschränken, dem Kind den Umgang mit seinem Elternteil zu ermöglichen, sondern auch alle vorbereitenden Maßnahmen umfassen, um dieses Ergebnis zu erreichen."


Unter „Allgemeine Grundsätze“ urteilt der EGMR wie folgt:

 

Unter Satz 60:

„Wie der Gerichtshof wiederholt in Erinnerung gerufen hat, zielt Artikel 8 der Konvention zwar im Wesentlichen darauf ab, den Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der öffentlichen Hand zu schützen, verlangt aber nicht nur, dass der Staat solche Eingriffe unterlässt: Zu dieser eher negativen Verpflichtung können noch positive Verpflichtungen hinzukommen, die sich aus der tatsächlichen Achtung des Privat- oder Familienlebens ergeben. Dies kann die Verabschiedung von Maßnahmen beinhalten, die darauf abzielen, das Familienleben auch in den Beziehungen zwischen den einzelnen Personen zu respektieren, einschließlich der Schaffung eines angemessenen und ausreichenden rechtlichen Instrumentariums, um die legitimen Rechte der betroffenen Personen und die Einhaltung gerichtlicher Entscheidungen zu gewährleisten, oder geeignete spezifische Maßnahmen (siehe mutatis mutandis, Zawadka gegen Polen, Nr. 48542/99, § 53, 23. Juni 2005). Dieses Arsenal muss es dem Staat ermöglichen, Maßnahmen zu ergreifen, um den Elternteil mit dem Kind zusammenzuführen, auch in Fällen von Konflikten zwischen den beiden Elternteilen (siehe mutatis mutandis, Ignaccolo-Zenide v. Rumänien, Nr. 31679/96, § 108, EGMR 2000-I, Sylvester gegen Österreich, Nr. 36812/97 und 40104/98, § 68, 24. April 2003, Zavřel gegen die Tschechische Republik, Nr. 14044/05, § 47, 18. Januar 2007, und Mihailova gegen Bulgarien, Nr. 35978/02, § 80, 12. Januar 2006). Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass sich die positiven Verpflichtungen nicht darauf beschränken, dem Kind den Umgang mit seinem Elternteil zu ermöglichen, sondern auch alle vorbereitenden Maßnahmen umfassen, um dieses Ergebnis zu erreichen (siehe entsprechend Kosmopoulou gegen Griechenland, Nr. 60457/00, § 45, 5. Februar 2004, und Amanalachioai gegen Rumänien, Nr. 4023/04, § 95, 26. Mai 2009, Ignaccolo-Zenide, a.a.O., §§ 105 und 112, und Sylvester, a.a.O., § 70).“

 

Unter Satz 61:

„Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass die Tatsache, dass die Bemühungen der Behörden vergeblich waren, nicht automatisch zu der Schlussfolgerung führt, dass der Staat seinen positiven Verpflichtungen nach Artikel 8 der Konvention nicht nachgekommen ist (Nicolò Santilli gegen Italien, Nr. 51930/10, § 67, 17. Dezember 2013). Die Verpflichtung der nationalen Behörden, Maßnahmen zu ergreifen, um das Kind mit dem Elternteil zusammenzuführen, bei dem es nicht lebt, ist nämlich nicht absolut, und das Verständnis und die Zusammenarbeit aller Beteiligten ist immer ein wichtiger Faktor. Die nationalen Behörden müssen sich zwar bemühen, eine solche Zusammenarbeit zu erleichtern, sind aber nur in begrenztem Umfang verpflichtet, in dieser Hinsicht Zwang auszuüben: Sie müssen die Interessen sowie die Rechte und Freiheiten derselben Personen berücksichtigen, einschließlich des Kindeswohls und der Rechte des Kindes nach Artikel 8 des Übereinkommens (Voleský gegen die Tschechische Republik, Nr. 63267/00, § 118, 29. Juni 2004).“

 

Zusammenführend unter Satz 62:

„In Bezug auf das Familienleben eines Kindes erinnert der Gerichtshof daran, dass inzwischen ein breiter Konsens - auch im internationalen Recht - darüber besteht, dass bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, ihr Wohl im Vordergrund stehen muss (siehe u. a. Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz [GC], Nr. 41615/07, § 135, EMRK 2010). Er betont ferner, dass in Fällen, in denen es um Fragen der Unterbringung von Kindern und um Umgangsbeschränkungen geht, die Interessen des Kindes Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben müssen (Strand Lobben und andere gegen Norwegen [GC], Nr. 37283/13, § 204, 10. September 2019). Bei der Anwendung von Zwang in diesem sensiblen Bereich ist äußerste Vorsicht geboten (Mitrova und Savik gegen die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 42534/09, § 77, 11. Februar 2016, und Reigado Ramos gegen Portugal, Nr. 73229/01, § 53, 22. November 2005). Entscheidend ist daher, ob die nationalen Behörden im vorliegenden Fall alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden konnten, um Besuche zwischen dem Elternteil und dem Kind zu erleichtern (Nuutinen/Finnland, Nr. 32842/96, § 128, EGMR 2000-VIII).“

 

Unter „Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall“ wird der EGMR fallbezogen konkreter:

 

Unter Satz 66:

„Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass positive Verpflichtungen sich nicht darauf beschränken, die Wiedervereinigung des Kindes mit seinem Elternteil oder den Umgang mit ihm zu gewährleisten, sondern auch alle vorbereitenden Maßnahmen umfassen, die erforderlich sind, um dieses Ergebnis zu erreichen.“

 

Unter Satz 68:

„Entscheidend ist, ob die nationalen Behörden im vorliegenden Fall alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden konnten, um Kontakt zwischen dem Elternteil und dem Kind zu erleichtern.“

 

Unter Satz 79:

„Das Gericht erkennt an, dass die Behörden im vorliegenden Fall mit einer sehr schwierigen Situation konfrontiert waren, die sich insbesondere aus den Spannungen zwischen den Eltern des Kindes ergab. Es räumt ein, dass die Unfähigkeit des Klägers, sein Umgangsrecht auszuüben, zunächst hauptsächlich auf die offensichtliche Weigerung der Mutter des Kindes, dann auf die Weigerung des Kindes und die Entfernung zwischen dem Wohnort des Kindes und dem des Klägers zurückzuführen war. Es erinnert jedoch daran, dass ein Mangel an Kooperation zwischen den getrennten Eltern die zuständigen Behörden nicht davon entbinden kann, alle Mittel einzusetzen, die geeignet sind, die Aufrechterhaltung der familiären Bindung zu ermöglichen.“

 

Unter Satz 80:

„Das Gericht ist der Ansicht, dass die Behörden im vorliegenden Fall nicht die gebotene Sorgfalt walten ließen und hinter dem zurückblieben, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte. Insbesondere ist es der Ansicht, dass die inländischen Gerichte keine geeigneten Schritte unternommen haben, um die Voraussetzungen für die volle Verwirklichung des Umgangsrechts des Vaters des Kindes zu schaffen.“

 

Unter Satz 82:

„Obwohl der Gerichtshof der Ansicht ist, dass das im italienischen Recht vorgesehene rechtliche Arsenal ausreicht, um den beklagten Staat in die Lage zu versetzen, die Einhaltung seiner positiven Verpflichtungen aus Artikel 8 der Konvention abstrakt zu gewährleisten, ist festzustellen, dass die Behörden im vorliegenden Fall keinen Gebrauch von den vorhandenen rechtlichen Instrumenten gemacht und keine Maßnahmen in Bezug auf L.R. ergriffen haben.“

 

Unter Satz 85:

„Der Gerichtshof nimmt auch die Verzögerung der Entscheidung des Gerichts von Venedig zur Kenntnis. Er erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass er im Rahmen von Artikel 8 der Konvention die Dauer des Entscheidungsprozesses der inländischen Behörden sowie die Dauer der damit verbundenen Gerichtsverfahren berücksichtigen kann. Es besteht immer die Gefahr, dass eine Verzögerung des Verfahrens in einem solchen Fall zu einer vollendeten Tatsache des strittigen Problems führt. Die wirksame Achtung des Familienlebens erfordert, dass die künftigen Beziehungen zwischen Eltern und Kind allein auf der Grundlage aller relevanten Faktoren und nicht einfach durch den Zeitablauf geregelt werden.“

 

Unter Satz 86:

„Nach Ansicht des Gerichts waren bei einer Entscheidung, die durch Artikel 8 der Konvention garantierten Rechte berührt, größere Sorgfalt und Schnelligkeit erforderlich.“

 

Unter Satz 87:

„In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen und ungeachtet des Ermessensspielraums des beklagten Staates in dieser Angelegenheit ist das Gericht der Auffassung, dass die nationalen Behörden keine angemessenen und ausreichenden Anstrengungen unternommen haben, um sicherzustellen, dass das Umgangsrecht des Beschwerdeführers beachtet wird, und dass sie sein Recht auf Achtung seines Familienlebens missachtet haben.“



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