Dr. Stefan Rücker, Bremen
Diplom-Psychologe, Kinderpsychologe
Leiter der Forschungsgruppe PETRA
Leiter der Arbeitsgruppe Kindeswohl an der Universität Bremen
Praxis für Paarberatung, Mediation, Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
Wissenschaftliche Durchführung bundesweiter Studien zu Kindeswohl und Umgangsrecht
Autor, Berater und Experte in TV und Medien
Fortbildungen und Initiativen in Politik und Justiz in Deutschland und Österreich
zum Kinderschutz
Kinder - Waffe wider Willen!
Bei 250.000-300.000 minderjährigen Kindern pro Jahr kommt es zur Trennung oder Scheidung der Eltern. Rund 20% der Kinder verlieren daraufhin den Kontakt zu einem Elternteil. Die Gründe sind unterschiedlich. Manchmal wenden sich Kinder enttäuscht von einem Elternteil ab, und auch Elternteile ziehen sich bisweilen desinteressiert zurück. Manche Elternteile zeigen einen problematischen Umgang mit Substanzmitteln, andere verüben Gewalt oder erweisen sich als sexuell übergriffig, so dass eine temporäre oder dauerhafte Unterbrechung des Kontaktes zwischen Kindern und Elternteilen dringend geboten ist. Vielfach jedoch „disqualifizieren“ sich Elternteile durch solche Verhaltensweisen nicht, und verlieren dennoch den Kontakt zu ihren Kindern. In solchen Fällen befördern Elternteile den Kontaktabbruch zwischen den Kindern und dem zweiten Elternteil. Die Rede ist von Eltern-Kind-Entfremdung.
Das Problem der Entfremdung besteht bereits seit Jahrzehnten und Generationen, es rückt aber erst allmählich in den Blick der beteiligten Fachprofessionen. Erfreulich ist, dass sich auch Medien zunehmend mit diesem Problemfeld beschäftigen. Aufmerksamkeit ist derzeit eine wichtige Währung und insofern stellt auch der vorliegende Zustandsbericht von „Papa Mama Auch e.V.“ einen wertvollen Baustein bei der Entwicklung eines Problembewusstseins für Entfremdung dar.
Während Kritiker noch über die Bezeichnung dieses Phänomens diskutieren ist aus kinderpsychologischer Perspektive unstrittig, dass der entfremdungs-bedingte Verlust einer liebgewonnenen, engen Bindungs- und Bezugsperson eine Risikokonstellation darstellt. Untersuchungen zeigen für betroffene Kinder ein um das sechs- bis vierzehnfach erhöhte Risiko, eine Depression zu entwickeln. Hinzu kommt eine hohe Wahrscheinlichkeit für Substanzmittelmissbrauch, Identitätsstörungen, Bindungsprobleme und einiges mehr.
Der Verlust einer liebevollen Bezugsperson führt schon bei Kleinst- und Kleinkindern zu risikolastigen Entwicklungen. Verlusterfahrungen werden von kleinen Kindern zwar kaum auf der bewussten Ebene erlebt; Haar-Cortisol Untersuchungen zeigen allerdings, dass Verlusterfahrungen Irritationen auslösen und auf der biologischen Ebene ihren Niederschlag finden. In der Regel weisen betroffene Kinder Stressmerkmale, wie zum Beispiel dauerhaft erhöhte Cortisol-Spiegel auf. Cortisol allerdings wirkt neuro-toxisch und beeinflusst dass sich entwickelnde Gehirn negativ. Die Synaptogenese, sprich, die Entwicklung der neuronalen Netzwerke im Bereich der kognitiven Entwicklung, aber auch der emotionalen Reizverarbeitung, wird hierdurch empfindlich gestört. Einschränkungen in der Lernentwicklung, schwieriges Sozialverhalten sowie spätere Kontakt- und Beziehungsstörungen können die Folge sein. Psychopathologisch wirkt dabei der Verlust eines Elternteils durch Entfremdung schwerer, als ein Verlust durch Tod.
Parallel zu der oben erwähnten Diskussion, die den Blickwinkel verengt und in diesem Zusammenhang wichtige Faktoren, wie beispielsweise spezifische, positive Elterneigenschaften nach Trennung und Scheidung verdeckt, wird gefordert, EntfremderInnen zu bestrafen. Nun liegt jedoch eine Fülle an Befunden vor die zeigt, dass Strafandrohung Straftaten nicht verhindert, insbesondere dort, wo eine auf dem Boden von affektiven, emotionalen Störungen eingeschränkte Steuerungsfähigkeit vorliegt. Diese Merkmale allerdings sind kennzeichnend für EntfremderInnen, denn die Ursachen und Motive für Entfremdung liegen in Angst, Rache, oder anderen affektiven Störungen. Hierbei handelt es sich nicht um juristische Sachverhalte, sondern um psychologische Zustände. Diese lassen sich selbstverständlich juristisch nicht auflösen. Insofern muss gefragt werden, wie Entfremdung künftig wirkungsvoll verhindert werden kann.
Schätzungen gehen davon aus, dass jährlich 40.000 Kinder entfremdungs-bedingt einen Elternteil verlieren. Diese Gruppe ist damit nahezu so groß wie die Zahl der Kinder, die jedes Jahr aufgrund von Misshandlung durch ihre Eltern in Obhut genommen wird. Während bei Inobhutnahmen jedoch die Misshandlung beispielsweise anhand offenkundiger Verletzungen wie Knochenbrüchen sichtbar wird, lässt sich die gebrochene Kinderseele durch emotionalen Missbrauch im Zusammenhang mit Entfremdung nicht unmittelbar erkennen. Die gravierenden Folgen wirken hier vor allem mittel- und langfristig.
Aus diesem Grund gilt es zunächst einmal anzuerkennen, dass es sich, wie auch im DSMV* beschrieben, bei Entfremdung um eine spezifische Form der Kindesmisshandlung, und somit um eine Kindeswohlgefährdung handelt.
Praxisbeobachtungen zeigen jedoch, dass dieser Umstand in familiengerichtlichen Verfahren noch zu selten berücksichtigt wird, und dass auch die Anwendung und Durchsetzung bereits bestehender rechtlicher Möglichkeiten bei diesem nicht immer einfach nachzuweisenden, komplexen Phänomen an Grenzen stößt.
Vor allem deshalb wäre wünschenswert, nach dem Vorbild Österreichs mit dem § 107 AußStrG (Außerstreitgesetz) Eltern verpflichtend zu beraten. Dieses Instrument bietet die Möglichkeit zu prüfen, welcher Elternteil konstruktiv und im Sinne des Kindeswohls agiert, und welcher eskalativ zu Lasten des Kindes handelt. Solche Informationen können bei etwaigen späteren familiengerichtlichen Verfahren Berücksichtigung finden und in Beschlüsse einfließen.
Vor allem jedoch mit Verweis auf die psychologischen Ursachen bei der Entfremdung muss sehr für eine Stärkung des Beratungsansatzes geworben werden. Elternteile, die aufgrund von Angst oder Rachegedanken zu einer Entfremdung ihrer Kinder neigen, profitieren von Angeboten zur Emotionsregulation. Praxiserfahrungen zeigen, dass die Reduktion von Angst, die Entwicklung neuer Perspektiven als auch klassische Trauerbegleitung nach Trennung oder Scheidung viele Elternteile dabei unterstützen, emotionale Stabilität zu erreichen und sich mit Blick auf das Wohl ihrer Kinder verantwortungsvoll zu verhalten.
Es ist offensichtlich, dass das „Konstrukt“ Kindeswohl vor allem an den Schnittstellen der Professionen einer Stärkung bedarf. Um das Wohl von Kindern im Kontext von Trennung und Scheidung noch besser schützen zu können wäre es überdies wünschenswert, wenn Deutschland durch eigene Forschung an den internationalen wissenschaftlichen Diskurs anknüpft. Auch wäre hilfreich, wenn aus dem politischen Raum Signale für eine Konzept-, und somit für eine dringend erforderliche Praxisentwicklung in diesem Bereich kommen. Besonders in dieser Hinsicht könnte es ein spannendes Jahr werden.
Dr. Stefan Rücker
*Eltern-Kind-Entfremdung (Parental Alienation) als spezifische Form von psychischer Kindesmisshandlung ist im DSM-5, dem aktuellen Diagnostic and Statistic Manual der American Psychiatric Association (APA) unter der Diagnoseziffer V 995.51 child psychological abuse verortet.
Alle Fachkommentare unserer Expertinnen und Experten in diesem Zustandsbericht: